22. August 2023

Zusammenfassung Podcast-Episode 3

Selbstbestimmt und vernetzt leben

Ein Smartphone mit großen Symbolen.
Quelle
CC0 1.0 Universal (CC0 1.0)

Dank digitaler Tools kann man Barrieren überwinden und die Teilhabe von Menschen mit Sinnes- und Mobilitätseinschränkungen fördern.

Teilnehmende des Rundtischgesprächs 

Christian Stahlberg: Bayerischer Blinden- und Sehbehindertenbund e.V. (BBSB)  

Klaus Heidrich: Allgemeiner Behindertenverband in Deutschland e.V. (ABiD) 

Björn Haase: Schwerhörigen-Verein Berlin e.V. 

André Schlegl: Deutsche Blindenstudienanstalt e.V. (blista) 

Sascha Lang: Moderator und Radiosprecher, Produzent von Podcasts (u.a. Podcast IGEL – Inklusion ganz einfach Leben). 

 Für Menschen mit Sinnes- und Mobilitätseinschränkungen stellen Tools eine Unterstützung dar digitale Barrieren zu überwinden und digitale Teilhabe zu erfahren. Welchen Mehrwert bieten diese Tools fürs Smartphone und Co. aus Sicht der Teilnehmenden, um die digitale Welt für betroffene Personen zugänglicher zu machen? 

B. Haase erklärt, für hörbeeinträchtigte Personen (mit Hörgerät oder Cochlear-Implantat) ist die Nutzung von SMS auf dem Smartphone sehr relevant, da entsprechende Personen visuell geprägt sind und bevorzugt mitlesen. Als selbst betroffene Person und Träger von Cochlear-Implantaten kann er die aktuelle Aufnahme des Interviews mithilfe einer Live-Transkription auf seinem Smartphone direkt mitverfolgen und den Ausfall eines seiner Geräte für den Moment ersetzen. Für manche technische Hör-Hilfsmittel lässt sich auf dem Smartphone ebenfalls eine Fernbedienungsfunktion einrichten.

Für K. Heidrich stellen Tools einen großen Vorteil dar die in jeder Lebenslage genutzt werden können, sei es die Vorleseeinrichtung oder die Veränderung von Kontrasten auf dem Bildschirm. Besonders weist er auf den Nutzen hin mithilfe einer App die Einsicht in die Sozialgesetzbücher zu erleichtern, für die Beantragung gewisser Leistungen kann so ortsunabhängig und zeitsparend gearbeitet werden. (Notfall-) Hilfe für unterwegs kann über das Smartphone schnell angefordert werden, das mildere die Angst sich draußen zu bewegen.

C. Stahlberg betont, im Vergleich vor zwei Jahrzehnten als das Internet noch begrenzteren Umfang und Mobilität hatte ist man heute nicht mehr auf teure Hilfsmittel angewiesen. Für blinde oder sehbehinderte Menschen, die sich mit der Bedienung eines Smartphones auskennen, können sich mehrere kostenlose Apps als nützliche digitale Helfer erweisen. Es können barrierefreie Informationen zu Fahrplänen der öffentlichen Verkehrsmittel im Nah- und Fernverkehr (App DB Navigator), die Navigation zu Fuß sowie die Wiedergabe von Texten und Produktbeschreibungen genutzt werden. Über eine weitere App kann eine blinde oder sehbehinderte Person mit einer sehenden Person direkt verbunden werden und über die Smartphone Kamera bei dem Problem behilflich sein.

A. Schlegel beschreibt den Nutzen und die Bedeutung der Tools betreffend für die Literaturversorgung. In Hörbüchereien und Blinden-Hörbüchereien gibt es Apps, mit denen man Bücher ausleihen und direkt streamen kann. Besonders hervorzuheben ist die App Leselust 

die Bücher im sogenannten DAISY-Format abrufen kann. Hier sind die Ebenen-Strukturen vorteilshaft erfasst, um die Navigation im Buch vielseitig zu erleichtern.  

Im beruflichen Alltag nutzt er z.B. die (integrierte) Lupen Funktion des Smartphones und die Vorlesefunktion von Texten mithilfe Google Lens. „Also allein schon so im Alltag, dieses Nutzererlebnis ist schon enorm […] also das steigert auch die selbstbestimmte Haltung von Leuten, dass man selbst in der Lage ist, etwas zu tun“, so Schlegel

Welche kostenlosen Apps können empfohlen werden? 

B. Haase empfiehlt die automatische Transkription von Windows 11 (in Deutsch verfügbar) und den integrierten Sprache-zu-Text Übersetzer, ebenso die Google App für Übersetzung. Beim Fernsehschauen kann der dort erstellte Text eine Hilfe fürs Verständnis sein. Leider werden noch keine Details zur Mimik oder Hinweise auf Ironie erfasst. Anwendungen für Gebärdensprache gestaltet sich noch als schwierig, er verweist eher auf den Nutzen von Videotelefonie, dort ist Kommunikation mit Gebärdensprache gut möglich.

K. Heidrich ist überzeugter Nutzer der App DB Navigator und der weiterentwickelten Variante DB Navigator Next. Hier wird zudem angezeigt welche Aufzüge und Rolltreppen außer Betrieb sind.

Für C. Stahlberg stellen die Apps Seeing AI und Envision quasi eine „Art Schweizer Taschenmesser“ für blinde und sehbehinderte Personen dar. Die Apps können Texte vorlesen, Dokumente einscannen mit Ausrichtungshilfe, die räumliche Umgebung erfassen und eine gesprochene Beschreibung geben, einen Barcode-Leser zur besseren Orientierung von z.B. Lebensmittelprodukten und vieles mehr. Er empfiehlt den DB Navigator und den ÖPNV-Navigator, hier findet man Echtzeit-Informationen zu Fahrplänen und eigenen Routen.

A. Schlegel findet eine Lupen App mit Makrofokusfunktion sehr wichtig, beim Einkaufen die Zutatenliste oder Inhaltsstoffe, Allergiehinweise können so besser gesehen werden. Die App DB Bahnhof live informiert zu Ausnahmesituationen mit dem Schienenersatzverkehr und ist mit Screenreader und Sprachausgaben bedienbar. Über all dem schwebt das Thema Selbstbestimmtheit, mithilfe der Apps selbst in der Lage sein, sich selbst etwas zugänglich zu machen ist von besonders großer Bedeutung. Natürlich sollte man, wenn man auf Grenzen stößt fremde Hilfe annehmen. 

Welche Voraussetzungen werden benötigt, um diese Tools richtig nutzen zu können? 

C. Stahlberg meint, dafür braucht es eine gewisse Neugier und einen Willen sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, eine Fehlertoleranz, um das neu gelernte täglich zu üben. Klar ist, eine blinde oder sehbehinderte Person muss ein Smartphone etwas anders bedienen als eine sehende Person, z.B. mit dem Sprachbefehl. Es gibt Seminare von der Blinden-Selbsthilfe und anderen Verbänden in Deutschland, sowie Stammtische wo man sich austauschen kann über Apps und deren Bedienung.

K. Heidrich erklärt, dass der Digital-Kompass gegründet wurde, um Menschen, die Berührungsängste mit der digitalen Welt haben, zu unterstützen. An den digitalen Stammtischen kommen Menschen mit unterschiedlichem Wissen über Technologie zusammen, um sich gegenseitig zu helfen. Der Digital-Kompass bietet eine große Gemeinschaft von Spezialisten und regelmäßigen Online-Veranstaltungen zu verschiedenen Themen. Besonders wichtig ist die Solidarität innerhalb der Gemeinschaft, gerade für Menschen mit Behinderungen. Apps sollten in Zusammenarbeit mit betroffenen Personen entwickelt werden und ihr Feedback in die Entwicklung miteinfließen.

A. Schlegel antwortet hierzu, um sicherzustellen, dass alle Menschen mit diesen Tools zurechtkommen, ist die Bedienung entscheidend. Das bedeutet mehr Fokus auf die semantische Struktur von Webseiten und Apps, Überschriften und Schalter sollten richtig ausgezeichnet werden, sowie sinnvolle Kontraste gewählt werden. Entwickler und Entwicklerinnen von Apps müssen die Technologie und Potenziale voll ausschöpfen und Verständnis dafür entwickeln, wie man die Tools zugänglicher gestaltet für Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen, um den Zugang zur App für alle Nutzenden zu erleichtern.

B. Haase erinnert sich, dass während der Pandemiezeit weniger Videotelefonate getätigt wurden. Vor allem die älteren Personen haben Berührungsängste vor unbekannten Diensten und Tools gehabt, eine unterstützende Person, die ihnen den Umgang mit den Gerätschaften zeigte, fehlte. In dieser Zeit wurde durch das Masken-Tragen besonders für hörbeeinträchtigte Menschen die Kommunikation erschwert die vom Mundbild ablesen. Er schätzt den digitalen Kompass als wertvolle Möglichkeit, Menschen an die Hand zu nehmen und den Nutzen von digitalen Tools aufzuzeigen.

Fazit: welche Aspekte für die digitale Barrierefreiheit und digitale Möglichkeit wären für die Zukunft wünschenswert? 

A. Schlegel wünscht sich für die Zukunft eine bessere Umsetzung der digitalen Barrierefreiheit, insbesondere im Zusammenhang mit Literatur und Schulmaterialien. Er beobachtet, dass einige Verlage die Barrierefreiheit noch „stiefmütterlich“ behandeln und erwartet, dass das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz die Verlage dazu bringt, ihre Leistungen bis 2025 barrierefrei anzubieten. Sein Appell: Barrierefreiheit sollte nicht als Last, sondern als Chance zur Teilhabe für alle Menschen betrachtet werden. Er betont, dass barrierefreie Gestaltung nicht im Widerspruch zu einer ansprechenden Optik stehen muss. Ein weiterer Wunsch ist, dass eBook-Reader und weitere Geräte barrierefreier gestaltet werden.

C. Stahlberg hofft ebenfalls, dass Barrierefreiheit als Chance erkannt wird und in alltäglichen Produkten wie in Haushaltsgeräten mehr umgesetzt wird. Diese sind zwar umfassend digital ausgestattet mit Touchscreens und Sensortasten, für eine blinde oder sehbehinderte Person wäre eine Bedienung über eine App gelegentlich dann auch möglich jedoch stößt dies auf Grenzen. Mehr Augenmerkt auf die Schnittstelle zwischen Menschen, Maschine und Bedienbarkeit wäre erstrebenswert. Außerdem spricht er sich für bessere Lösungen für die Navigation aus, sowohl im Außen- als auch im Innenbereich von Gebäuden, um sicher und effizient sich bewegen zu können. Bessere Kennzeichnung von sicheren Querungsstellen und Eingängen wären von großem Nutzen. Des Weiteren sieht er im Bereich der smarten Mobilität viele Chancen, wie etwa autonome Fahrzeuge.

Für B. Haase ist eine einfach zu bedienende Brille, die einen transkribierten Text anzeigt zum Mitlesen des gesprochenen Wortes wünschenswert. Und eine Technologie, die das Hörverstehen in lauten Umgebungen (wie in der Cafeteria oder auf der Straße) verbessert. Ideal wäre eine Tonübertragung, in der zuvor über das Smartphone Störgeräusche gefiltert werden.

K. Heidrich fasst am Ende zusammen, dass Barrierefreiheit für alle angestrebt werden sollte. Viele Probleme im Alltag wie Bordsteinkanten betreffen nicht nur eine gewisse Zielgruppe. Es gilt die Gesellschaft darauf aufmerksam zu machen und zu stärken.

S. Lang wünscht sich eine App die gesprochene Sprache in Gebärdensprache übersetzt und umgekehrt, selbstverständlich ersetzt dies kein persönliches Gebärdendolmetschen, sondern soll der allgemeinen Unterstützung der betroffenen Personen dienen.

Redaktion Blogbeitrag: Mayumi E. Feuerlein 

Weitere Informationen unter www.digital-kompass.de 

Fragen und Anmerkungen an: podcast@digital-kompass.de 

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Von
D.Lehmann